Seine letzte Reise

Anfang Februar letztes Jahr besuchte ich meinen Vater im Krankenhaus und wurde von der Schwester mit den Worten begrüßt: „Sind Sie Island? Sie werden schon sehnsüchtig erwartet!“

So lange hatte mein Vater von dieser Reise geträumt, eine Schiffstour nach Island. Auch jetzt noch, nachdem der Traum für ihn geplatzt war und er sich längst auf einer ganz anderen Reise befand, konnte er offenbar nicht aufhören, davon zu erzählen. Mein Vater liebte es zu erzählen!

Von Island begann er schon kurz nach dem Tod meiner Mutter zu sprechen – nachdem aufgrund ihrer Krankheit größere Reisen für beide lange nicht möglich gewesen waren. Mich hatte es erst ein bisschen überrascht, dann aber vor allem gefreut, dass er wieder Pläne schmiedete. Bald stand fest: Zum 75. würde er sich selbst diese Reise schenken. Und ja, er würde den Geburtstag auch groß feiern. Ich: Papa, du musst nicht, wenn es dir zu viel wird. Er: Doch, wer weiß, ob ich den nächsten Runden noch erlebe. Ich schüttelte den Kopf – mein Vater war bis auf ein paar Altersperenzchen fit.

Also planten und feierten wir ein Fest im Lieblingsrestaurant meiner Eltern an der Elbe, mit der Familie und vielen Freunden, die aus Flensburg, Lübeck, Bremen, Düsseldorf angereist kamen. Es war ein wunderbarer Tag, den wir alle genossen, vor allem mein Vater. Und ich bin so froh darüber. Die meisten Gäste sah ich nur fünf Monate später auf seiner Beerdigung wieder. Niemand konnte es recht fassen.

Im Oktober, ein paar Wochen nach seinem Geburtstag, hatte mein Vater die Diagnose Speiseröhrenkrebs erhalten. Gleich Anfang des nächsten Jahres sollte die große Reise stattfinden. Dass der Krebs bereits fortgeschritten und nicht mehr heilbar war, wusste er, dennoch mochte er die Fahrt nicht absagen. Vielleicht würde ihm die Chemo noch etwas Zeit verschaffen?

Am 25. Januar ging schließlich ich an Bord der MS Norröna – seine Kraft hatte nicht mehr gereicht, die Reise war nicht mehr zu stornieren und ich in letzter Minute für ihn eingesprungen.

Die Smyril Line verbindet die Färöer mit Island und Dänemark. Im Sommer meist ausgebucht fasst die 165 Meter lange Fähre über 1.400 Passagiere – jetzt in der Nebensaison befanden sich neben der Besatzung maximal 200 Menschen an Bord. 60 davon gehörten zur Reisegruppe des Ankerherz-Verlags, der diese Tour, die so gar nichts von einer Kreuzfahrt hat, seit ein paar Jahren anbietet: von Hirtshals im Norden Dänemarks mit Zwischenstopp Färöer nach Seydisfjördur, Island und wieder zurück. Sieben Tage und Nächte im Nordatlantik.

Während das Schiff den Hafen verließ und raus aufs Meer fuhr, stand ich an Deck, machte ein paar Fotos und schickte sie in die Familiengruppe. Ich hatte einen Kloß im Hals, es fühlte sich einfach falsch an. Aber ich hatte meinem Vater versprochen, viele Fotos aufzunehmen. Und mir selbst, das Beste draus zu machen. Das hatte ich mir bereits auf der Busfahrt von Hamburg nach Dänemark eintrichtern müssen, als alle die Liederhefte rausholten und wir gemeinsam Seemannslieder anstimmen sollten. Unser eigens mitgereister Akkordeonspieler gab den Ton an. Kurz überlegte ich, die Augen zu schließen, Ohrstöpsel reinzustecken und alles ganz schlimm zu finden. Dann besonn ich mich eines Besseren und beschloss, mich einfach drauf einzulassen.

Ich hätte diese Art von Reise sicherlich nicht gewählt – wenn überhaupt Gruppenreise, dann nur mit Schwimmern. Damit habe ich ja beste Erfahrungen gemacht und auf jedem Swimtrek tolle Menschen kennengelernt. Dies hier war ein anderer Menschenschlag, zwar bunt gemischt – von Funktionsjackenträgern Mitte dreißig über Paare in ihren Sechzigern bis zu naturbegeisterten Senioren – und alle irgendwie nett, aber nicht meine Wellenlänge, das spürte ich.

Zum Glück gab es kein durchgetaktetes Programm. Eigentlich konnte man seine Tage an Bord frei gestalten und vom Ankerherz-Angebot mitmachen, wonach einem der Sinn stand: Lesung, Liederabend, Gespräch mit einem Kapitän im Ruhestand.

Nachdem ich meine anfängliche Skepsis über Bord geworfen hatte, nahm ich die Reise als das Geschenk an, das sie war: Während meine Brüder sich um meinen Vater kümmerten, der gerade mal wieder im Krankenhaus lag, konnte ich mir eine Pause gönnen und durchschnaufen. In den vergangenen Wochen war mein Vater immer wieder im Krankenhaus gewesen, hatte Chemo begonnen und wieder abgebrochen. Aufgrund von Metastasen im Steiß konnte er schon lange nicht mehr schmerzfrei sitzen. Das Schlucken fiel ihm schwer. Trotz hochkalorischer Trinknahrung war er nur noch die Hälfte des Mannes, der erst wenige Monate zuvor mit reichlich Rotwein seinen 75. begossen hatte. Mit anzusehen, wie schnell er abbaute, wie sehr er litt, war unendlich bedrückend. Ich konnte mir eigentlich kaum einen besseren Ort vorstellen, um zumindest für einen Moment mal Abstand zu gewinnen und kurz Kraft zu tanken, als diese Fähre im Nordatlantik.

Den ersten Tag an Bord beschloss ich mit einem Bier in der Raucherlounge – vier windgeschützte Stühle mit Blick auf den Helikopter-Landeplatz. Ich unterhielt mich noch ein wenig mit zwei älteren Herren von den Färöern, die Ole hießen, Bloody Mary tranken und früher selbst zur See gefahren waren. Dann begab ich mich hundemüde in meine Koje – und schlief nicht.

Zunächst waren da die ungewohnten Geräusche des Schiffes und ein leichtes Schaukeln, das ich als ganz angenehm empfand und dabei eindöste. Doch als die Norröna irgendwann mitten in der Nacht den Windschatten der norwegischen Küste verließ und so richtig aufs offene Meer kam, wurde aus dem leichten Schaukeln ein ordentliches. Ich befand mich noch immer in einem seeligen Dämmerzustand, dachte im Halbschlaf: Ah, jetzt wird’s interessant und lustig. Mein Körper aber schien vor allem zu denken: Was zur Hölle ist denn hier los? Ich bleibe lieber mal wach.

Am nächsten Morgen durfte er sich dann ganz anderen Herausforderungen stellen: duschen und dabei nicht umkippen, heil zum Frühstück gelangen – jetzt ergaben die Griffe überall Sinn –, Frühstück bei sich behalten. Letzteres gelang längst nicht allen meiner Reisegenossen – einige bekam ich tatsächlich erst an Tag 3 der Reise wieder zu Gesicht. Fürsorgliche Freundinnen hatten mich vor der Reise bestens ausgestattet mit Wunderpillen und einem Akupressur-Armband gegen Seekrankheit. Wie sich schnell herausstellte, brauchte ich beides nicht. Ich war seefest und mächtig stolz.

Bei vier Meter hohen Wellen und sieben Beaufort ließ ich mich vormittags an Deck durchpusten und fand es herrlich. Abends sahen wir in der Ferne Muckle Flugga, den Leuchtturm der schottischen Shetlandinseln blinken. Anschließend sang ich Seemannslieder, trank mit dem Akkordeonspieler zwei Dark’n’Stormy und schlief trotz Fünfeinhalbmeterwellen wie eine Nixe.

Als ich am nächsten Morgen aus meinem Bullauge lugte, fuhren wir gerade im Hafen von Tórshavn, der Hauptstadt der Färöer, ein. Bei Nieselregen besuchten wir ein Dorf aus Blockhäusern, das älteste aus dem 13. Jahrhundert, auf Streymoy. Nachmittags legten wir wieder ab und durchfuhren begleitet von Wolken und Sonne eine Passage zwischen den Inseln – es war majestätisch.

Aufs Meer gucken, kein Buch lesen, Bier trinken, weiter aufs Meer gucken, Abendessen, Lieder singen, mit dem Barmann flirten, den besten Whiskey Sour im Nordatlantik trinken, in den Nachthimmel gucken, noch eine rauchen – noch eine schaukelnde Nacht.

Am dritten Morgen stand ich um 9 Uhr warm eingepackt an Deck und beobachtete still, wie die Norröna durch den Seydisfjördur Fjord glitt. Es war unbeschreiblich schön. Der Himmel über Island noch dunkel, links und rechts schneeweiße Berge, am Ende des Fjords leuchtete die Stadt Seydisfjördur – 685 Einwohner. Vom Schiff aus konnte man jedes einzelne Haus der Stadt ausmachen, jedes Auto, jeden Fußgänger. Ich sprang sogleich in meine geborgte Schneehose und stapfte los. Durch den Schnee, vorbei an bunten Holzhäusern, rot, blau, gelb, die kleine Kirche hellblau. Ich begegnete kaum jemandem, die ganze Stadt, die eher wie ein Dorf anmutete, schien im Winterschlaf zu liegen. Da kam mir auf menschenleerer Straße der Akkordeonspieler entgegen. Gemeinsam fanden wir das einzige geöffnete Café, in dem uns ein amerikanisches Hipster mit Man Bun Cappuccino servierte. Der kleine Raum wimmelte vor Sukkulenten, nebenbei verkaufte er selbstgestrickte Schals. Wir fragten ihn, was ihn ausgerechnet hierhin, ans Ende der Welt, verschlagen hatte. Die Liebe. Natürlich.

Die Norröna blieb über Nacht in Seydisfjördur liegen, und dank einer Sondererlaubnis der Reederei durfte unsere Gruppe an Bord bleiben. Normalerweise verlassen hier alle Passagiere das Schiff – es ist schließlich eine Fähre, kein Kreuzfahrer.

Am nächsten Tag unternahmen wir gemeinsam eine lange Wanderung am Fjord entlang. Nachmittags saß ich mit dem Akkordeonspieler bei Craft Beer und isländischer Pizza im einzigen geöffneten Restaurant der Stadt – unser Schiff durchs Fenster immer im Blick. Erstaunt stellte ich fest, wie sehr mir unsere schaukelnde Herberge in den letzten vier Tagen ans Herz gewachsen war.

Am Abend legte die Norröna wieder ab und begab sich auf den Rückweg: zu den Färöern, vorbei an den Shetlandinseln, nach Dänemark. Bevor am 1. Februar die Küste in Sicht kam, stand ich noch einmal bei herrlichstem Sonnenschein an Deck und ließ alles auf mich wirken. Was für eine traurigschöne Reise das war. Mit glasigen Augen blickte ich aufs Meer, mein Herz schwer, so schwer.

Am Tag zuvor hatte ich die Nachricht bekommen, dass Papa nun auf der Palliativstation lag. Zwei Wochen später hatte er es dann geschafft. Am Valentinstag war er wieder vereint mit seiner Frau, die Leuchttürme so sehr liebte. Als ich ihm ein Foto vom Muckle Flugga Lighthouse geschickt hatte, hatte er nur geantwortet: Der Leuchtturm ist an allem schuld! Was er genau damit gemeint hat, wird er mir noch erzählt haben, da bin ich mir sicher.

Dinner for One: Rote-Bete-Risotto

Ich hoffe, ihr seid alle gesund und halbwegs munter ins Jahr gestartet. Dieser Januar wird für viele sicherlich noch zäher, als er ohnehin immer ist. Was mir momentan gut tut: ausgiebig spazieren gehen, viel lesen (bin durch mit A Promised Land!) und lecker essen. Und dieses Risotto macht nicht nur optisch gute Laune!

Zutaten für zwei Portionen:

1 große Rote Bete (in kleine Würfel geschnitten )

1 Schalotte (fein geschnitten)

1 halbe Lauchstange (nur das Weiße, fein geschnitten)

1 Knoblauchzehe (gehackt)

25 Gramm Butter

2 Thymianzweige (nur die Blätter)

180 Gramm Risottoreis

75 Milliliter Weißwein

500 Milliliter Gemüsebrühe

30 Gramm Parmesan

80 Gramm Ziegenkäse (zerbröselt)

Butter in einem Topf schmelzen. Rote Bete, Schalotten, Lauch und Knoblauch hinzufügen und bei niedriger Temperatur langsam köcheln, bis das Gemüse glasig wird.

Reis und Thymian dazugeben und unterrühren. Temperatur etwas erhöhen und mit Weißwein ablöschen. Sobald die Flüssigkeit aufgesogen ist, etwas Brühe hinzufügen und rühren. Dies bei niedriger Temperatur wiederholen, bis der Reis gar ist. Das dauert circa 15 Minuten.

Wenn der Reis weich ist und die Flüssigkeit vollständig aufgesogen, Parmesan und Ziegenkäse unterrühren. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.

Kommt gut durch die nächsten Wochen!

Wenn wir uns nicht sehen

Im März wollte ich mit meinen ältesten Freundinnen für ein Wochenende nach Aarhus fahren. Wir kennen uns seit dem Studium in Kiel, haben uns zwischendurch in der Republik verteilt und das Glück, seit ein paar Jahren alle in Hamburg zu wohnen. Dennoch sehen wir uns nur alle paar Wochen, manchmal vergehen Monate, jede eingespannt in Job, Familie, das Leben. Den letzten gemeinsamen Trip haben wir vor Jahren gemacht (acht? neun?). Die Vorfreude auf Aarhus war also riesig: endlich mal ausgiebig Zeit füreinander haben und gemeinsam etwas erleben, das über ein Abendessen hinausgeht.

Dann kam Corona. Das Wochenende wurde abgesagt, und wir vier haben uns seither genau einmal gesehen: im Hochsommer zum Picknick draußen.

Freundschaften muss man pflegen. Ich bin single, ich weiß, wovon ich rede – seit Jahren ist die Pflege von Freundschaften meine Hauptfreizeitbeschäftigung. Wenn ich das Wochenende nicht allein verbringen möchte, überlege ich mir bereits Anfang der Woche, wen ich sehen möchte und schmiede Pläne. Eine spontane WhatsApp am Freitagabend „Lust aufn Drink?“, das funktioniert leider nur noch selten.

Doch dieses Jahr war ich des Pflegens müde. Das begann schon im Februar und hat sich seitdem nur geringfügig gebessert. Ausgerechnet dieses Jahr, in dem Treffen mit Freund*innen hoch komplexe Arrangements sein konnten – Per Zoom oder live? Wie viele Haushalte? Spazieren oder Essen? Drinnen oder Draußen? –, mochte ich nur pflegen, was pflegeleicht war:

Meine Lieblingskollegin aka Office Wife traf ich, während wir zuhause arbeiteten, mindestens einmal wöchentlich zum Kaffee an der frischen Luft. Eine Woche, in der wir nicht miteinander reden, ist eigentlich unvorstellbar.

Zwei andere Kolleginnen, die in diesem Jahr Freundinnen wurden, traf ich jeden Freitagnachmittag zu Video-Drinks. Im Sommer setzten wir die Tradition beim Italiener vor der Tür fort.

Meine Freunde, mit denen ich sonst jedes zweite Wochenende in der Nordkurve stehe, traf ich einmal die Woche zum Filmgucken.

Meinen besten Freund, der wie ich alleine lebt, traf ich regelmäßig zu Ausflügen.

Selbst den Mann, mit dem es in den letzten Jahren immer wieder Kommunikationsstörungen gab, traf ich mehrfach auf Draußendrinks, was jedes Mal unkompliziert und gut war (Klopf auf Holz). Auch weil er einer der wenigen ist, bei dem ein spontanes „Heute Abend Drinks?“ oft funktioniert.

All das und vieles mehr ergab sich leicht.

Aber vieles andere hat in diesem verdammten Jahr, das uns alle Kraft gekostet hat, auch gelitten. Manchmal habe ich nach zwei fruchtlosen Versuchen einfach aufgegeben, machmal war ich bockig und dachte, XY kann sich ruhig auch mal melden, manchmal hab ich es gar nicht erst versucht. Im Sommer war es kurz leichter, aber seit Herbst erscheint mir jeder Versuch einer Verabredung ein Kraftakt, für den mir oft die Energie fehlt. Und in stillen Momenten frage ich mich: Wird das Spuren hinterlassen in unseren Freundschaften?

Ich vermute: ja und nein. Auch ohne Pandemie befinden sich Freundschaften im ständigen Wandel, die wenigsten halten ein Leben lang. Meine Mädels aus dem Grundstudium in Kiel kenne ich inzwischen ein viertel Jahrhundert; auch wenn wir uns mal wochenlang nicht sehen und sprechen, sind sie eine Bank. Zu meinen Jungs aus dem Hauptstudium in Marburg habe ich dagegen fast vollständig den Kontakt verloren.

Nur eine gewisse Anzahl von Freundschaften lässt sich beständig intensiv pflegen. Kommen neue hinzu, schlafen unterdessen ein paar alte beinahe unmerklich ein. Manchmal finden sich auf wunderbare Weise neue Freund*innen, zum Beispiel, weil da auf einmal diese Kollegin ist, die wirklich nachvollziehen kann, was es heißt, in kürzester Zeit beide Eltern zu verlieren – und mit der dich schließlich noch mehr verbindet.

Manchmal entfernt man sich auch nur für eine Weile, ohne dass man es will, etwa, weil eine Freundin in eine andere Stadt zieht oder ein Kind bekommt, während du kinderlos bleibst. Beide vermissen die gemeinsamen Nächte am Tresen mit viel zu viel Weißwein. Doch auch wenn sie sich gerade nicht zurückholen lassen, muss das nicht bedeuten, dass sie nie wieder kommen. Daher ist es okay, so lange man weiß, dass, wie oft man sich sieht, nichts darüber aussagt, wie gern man sich hat. Ein paar meiner Lieblingsmenschen habe ich dieses Jahr nur einmal gesehen. Aber dieses eine Mal hatten wir uns jede Menge zu erzählen. Das ist, was zählt.

Es gibt Freund*innen, die trifft man mehrmals die Woche, andere nur alle paar Monate. Jede dieser Freundschaften hat ihren eigenen Wert, wichtig ist nur, dass man an sie glaubt und sie pflegt. Und geht einer mal die Kraft dafür aus, hat hoffentlich die andere noch welche übrig.

An Weihnachten und zwischen den Jahren werde ich mich auf ein paar wenige Menschen konzentrieren. Vermutlich werde ich mich energiemäßig auch im Januar und Februar noch im Winterschlaf befinden. Aber ich bin zuversichtlich: Sobald die Krokusse blühen, kommt die Energie zurück. Und irgendwann geht all das wieder, was die Pflege leichter macht: Restaurantbesuche zu zweit, Balkonabende zu viert, Treffen im Stadion mit 29.000 Menschen, von denen mir sechs ganz besonders am Herzen liegen, Küchenpartys mit so vielen, wie eben rein passen.*

Ihr Lieben, habt schöne Weihnachten im Rahmen des Möglichen, bleibt gesund und kommt gut ins Neue Jahr! Die Roaring Twenties kommen noch! Schön, dass ihr da seid.

Eure Julia

* Und dann fahren wir auch nach Aarhus, Mädels, ja?

Sechs Bücher zum Versacken auf der Couch

Diese Bücher habe ich in den letzten Wochen sehr gerne gelesen. Meine Empfehlung (auch an mich selbst) wäre es, zwischen den Jahren – und im Januar und im Februar – nicht nur Netflix zu gucken, sondern mehr zu lesen. Ein gutes Buch macht einfach glücklich! Ich habe gerade Barack Obamas A Promised Land angefangen. Bin auf Seite 14 von 700, parallel gucke ich The Bold Type of Amazon Prime, hust – vor nächstem Sommer sind hier also keine neuen Buchtipps zu erwarten.

Übrigens: Bitte nicht davon abschrecken lassen, dass dies alles englische Bücher sind. Ich lese seit dem Anglistikstudium am Liebsten im Original, aber alle Titel sind auch auf Deutsch erschienen (oder werden es bald).

Madeline Miller, Circe

Die Geschichte aus der griechischen Mythologie neu erzählt, mit feministischem Blick. Circe, Tochter von Helios und Perse, wird aufgrund einer „Unartigkeit“ auf eine einsame Insel verbannt. Vor allem aber die Geschichte einer Frau mit eigenem Kopf, die sich von Männern nicht dumm kommen lässt – egal, ob Gott oder sterblich – und ihren Weg geht.

Auf Deutsch im Eisele Verlag erschienen.

Polly Samsom, A Theatre for Dreamers

1960, ein Sommer auf Hydra, griechische Insel und Künstlerkolonie. Die junge Erica taucht ein in diesen intellektuellen und vermeintlich progressiven Zirkel – in dem die Männer sich zum Schreiben in ihre Kammern zurückziehen und die Frauen obwohl selbst voller Ambitionen sich um Kinder und Küche kümmern.

Erscheint im März bei Ullstein.

Rachel Cusk, Outline

Nochmal Griechenland. Eine Schriftstellerin reist im Hochsommer nach Athen, um einen Schreibkurs zu geben. Selbst frisch getrennt wird sie zur Zuhörerin einer Reihe von Lebensgeschichten. Ein stiller, kluger Roman über Liebe, Verlust und Erinnerung.

Bei Suhrkamp erschienen.

Dolly Alderton, Ghosts

Nachdem sie längere Zeit glücklich single war, verliebt sich Nina Hals über Kopf. Währenddessen baut ihr Vater gesundheitlich zunehmend ab und zieht ihre älteste Freundin mit Mann und Kind aufs Land, was nicht nur eine räumliche Distanz schafft. Jemand meinte zu mir, Dolly Alderton hätte zu viel in diesen Roman gepackt. Doch manchmal ist das Leben zu viel, denn das Leben schert es nicht, ob dein Herz gebrochen ist und du eigentlich nicht auch noch die Kraft für Sorge um deine Eltern hast. Ich habe mich auf jeden Fall in diesem Buch sehr wiedergefunden und mehr als eine Träne verdrückt.

Erscheint im Februar bei Atlantik.

Lily King, Writers & Lovers

Ihre Mutter ist gerade gestorben, der Schuldenberg seit dem Studium nie kleiner geworden, sie jobbt als Kellnerin, und ob der Roman, an dem sie seit sechs Jahren schreibt, jemals fertig wird, ist fraglich. Caseys‘ Leben steckt in mehrerer Hinsicht in einer Sackgasse. Und das wird auch nicht besser, als auf einmal gleich zwei Männer sich in sie verlieben.

Auf Deutsch bei C.H. Beck erschienen.

Ottessa Moshfegh, My Year of Rest and Relaxation

Dieses Buch ist ein bisschen schräg und passt gleichzeitig irgendwie ganz gut in diese Zeit. Ich habe in den letzten Tagen zumindest mehr als einmal gedacht, dass so’n Winterschlaf jetzt nicht schlecht wäre. Zurück zum Buch: Die Heldin, eine auf den ersten Blick privilegierte, junge Frau in New York hat aus Gründen die Schnauze voll von dieser Welt und beschließt, ihr für ein paar Monate den Rücken zu kehren. Dafür lässt sie sich von einer dubiosen Therapeutin ein Arsenal an Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Schlaftabletten verschreiben und begibt sich in einen „Winterschlaf“. Sicherlich nicht zur Nachahmung zu empfehlen. Dennoch: Wer weckt mich im April?

Auf Deutsch bei Liebeskind erschienen.

Zu guter Letzt, man kann es nicht oft genug sagen: Bitte bestellt nicht bei Amazon, sondern bei der Buchhandlung um die Ecke. Bei den allermeisten kann man gerade vorbestellte Bücher an der Tür abholen.

Da dieser Beitrag Marken- und Produktnennungen sowie Verlinkungen enthält und das nach derzeitiger Rechtslage als Werbung gilt, kennzeichne ich ihn als WERBUNG. Es handelt sich dennoch um persönliche Empfehlungen.

Geschenke, mit denen sich der (Griechenland-)Urlaub nach Hause holen lässt

Ihr Lieben, ich gebe zu: Dieser Post kommt reichlich spät. Wer noch ein Geschenk sucht, möge hier hoffentlich dennoch Inspiration finden – und in den nächsten Tagen Mittel und Wege, es zu beschaffen.

Viele von uns mussten dieses Jahr ihre Reisepläne über den Haufen werfen und sind etwa an die Mecklenburgische Seenplatte gefahren, statt in der Ägäis zu schwimmen. Auch wunderschön, aber anders. Falls eine oder einer eurer Lieben Sehnsucht nach Süden haben sollte, hier ein paar Geschenkideen. Alles davon lässt sich mit ein wenig Fantasie leicht für den Italien- oder Frankreich-Fan adaptieren.

Bergtee von der Peloponnes und Tassen, die zwar aus Schweden kommen, aber farblich nach Griechenland aussehen. Den Tee gibt es in Hamburg im Fritzis auf St. Pauli und einen ähnlichen bei Besonders Hamburg in Eimsbüttel. Das Tablett ist von Lys Vintage.

Pflegeprodukte, die nach Sonne und Salz riechen. Ich decke mich in Griechenland immer mit Korres ein, gibt’s aber auch hier, in Hamburg bei Budni.

Ein Buch, das einen auf eine griechische Insel entführt, und ein schönes Strandhandtuch. Circe mochte ich sehr, auf Deutsch im Eisele Verlag erschienen.

Ein T-Shirt, das danach schreit mit Jeansshorts und Fliflops getragen zu werden – und mit dem man außerdem noch einen guten Zweck unterstützt. Etsikietsi heißt das Buch von Linda Zervakis* und bedeutet auf Griechisch „so la la“, was irgendwie ja auch zu diesem Jahr passt.

* Könnte sein, dass die Idee für den Titel von mir war.

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Night Walking

Anfang Oktober habe ich in einen kuscheligen Daunenmantel (aus recyceltem PET!) investiert, in der Hoffnung, gut gewärmt darin die Winterabende des Pandemiejahres vor den Bars und Restaurants der Stadt zu verbringen. Daraus wurde leider nichts, dennoch war es die beste Investition der Saison. Denn nun leistet er mir auf meinen abendlichen Spaziergängen gute Dienste.

Ich lebe allein. Als vor ein paar Wochen der „Lockdown light“ verkündet wurde, lag ich mit einem beklemmenden Gefühl zuhause auf der Couch und fragte mich, wieviele liebe Gesichter ich im November wohl sehen würde. Bereits in den Wochen zuvor waren mit steigenden Infektionszahlen Verabredungen immer seltener geworden. Und nun? Wieder Zoom-Trinken? Ich mochte nicht. Alles in mir sträubte sich dagegen.

Zu meinem Glück beorderte mich schon in der zweiten Novemberwoche eine Freundin auf die Straße. Ausgerüstet mit je zwei Piccolos Crémant drehten wir unsere Runden durchs Viertel, stießen auf den Wahlsieg Bidens an und waren wild entschlossen, uns von dem bösen C nicht die Laune verderben zu lassen, zumindest nicht dauerhaft. Bisher gelingt es ganz gut – auch dank abendlicher Spaziergänge wie diesem.

Wenig überraschend: Denn während wir bei Zoom und Co. auf den Bildschirm gucken und nie in die Augen unseres Gegenüber, schafft ein Spaziergang nicht nur echte Nähe, das Gehen bringt auch unsere Gedanken in Fluss. Das macht es so viel leichter, nach der ersten halben Stunde obligatorischen Corona-Talks andere Themen zu finden.

Letzte Woche sammelte mich ein Freund ein. Wir liefen zu unserer beider Stammbar, die derzeit eine Auswahl bester Drinks für unterwegs verkauft, liebevoll abgefüllt in kleine Glasflaschen. Wir bestellten Whiskey Sour – einen gab‘s im Becher auf die Hand, einen für später in die Jackentasche.

Über den leeren Kiez liefen wir Richtung Hafen und setzten uns in der Nähe des Tropeninstituts auf eine Bank. Der kleine Weg dort heißt „Bei der Erholung“. Wie wunderbar ist das bitte? Und wie passend! Denn erholsam war es. Wir sprachen übers Schachspielen, über Serien und Bücher. Dabei tranken wir unsere Drinks und blickten auf die beste Kulisse der Stadt: der Hafen bei Nacht mit seinen Lichtern und den Geräuschen containerstapelnder Krähne. So viel besser als ein Zoom-Date.

Foto: MP

Seit heute darf in einigen Hamburger Stadtteilen kein Glühwein to go mehr verkauft werden. Vermutlich folgt bald ein stadtweites Glühweinverbot. Überraschend ist das nicht. Aber schade. Ich bin zwar kein großer Glühweinfan, es gibt wahrlich Leckereres. Aber mir tut es für die Gastronomen leid, die sich in diesen herausfordernden Zeiten immer wieder etwas Neues einfallen lassen. Und dann ist nicht mal das Wenige möglich, weil Mensch nicht in der Lage ist, sich mit Getränk in der Hand ein bisschen zu bewegen, und in Trauben vor den Läden stehen bleiben.

Ich werde meine abendlichen Spaziergänge auf jeden Fall beibehalten. Hoffentlich mit einem zweiten Haushalt an meiner Seite. Und zur Not mit Flachmann in der Manteltasche.

Corona Filmclub

Für die meisten von uns fließen die Tage und vor allem Abende gerade etwas abwechslungsarm in einander. Ist heute Dienstag? Mittwoch? Donnerstag? Spielt keine große Rolle ohne Verabredung, Kinobesuch oder Yoga-Kurs. Und die Zeiten, in denen man die Lieblingsserie nur an einem bestimmten Wochentag im TV gucken konnte, sind ja auch längst vorbei.*

Einen festen Termin aber habe ich im Kalender stehen: dienstags, 20:30, Corona Filmclub. Seit Beginn der Pandemie „treffe“ ich mich am Dienstagabend mit fünf Freund*innen zum gemeinsamen Filmgucken: um halb neun jede*r auf ihrer/seiner Couch, gleichzeitig drücken wir auf Play, und dann wird der Film im WhatsApp-Chat begleitet. Es ist ein Highlight meiner Woche!

Bewährt haben sich Klassiker der Achtziger und Neunziger mit hohem Unterhaltungsfaktor, die man lange nicht gesehen hat und während derer das Gequatsche – oder vielmehr Getippe – nicht stört. Jeden Dienstag reisen wir so gemeinsam in unsere Jugend, stoßen auf längst vergessene Anekdoten, teilen Erinnerungen, ab und zu auch Fotos längst verdrängter Frisuren. Ein Abend, an dem in der Regel viel Unsinn ausgetauscht und kaum ein Wort über Corona verloren wird. Es tut so gut. Ich kann es nur empfehlen!

Da wir uns zuletzt nicht mehr so einfach auf einen Film einigen konnten, sehen die aktuellen Clubregularien wie folgt aus: M. schickt eine Liste mit seinen Top 5 per Post (schön gestaltete Karte ist Ehrensache) an J. Die wählt den Film der Woche und schickt ihre Top 5 an V. (zuvor von M. bestimmt) und bittet ihn, seine Liste wiederum an A. zu schicken usw.

Bisher haben wir gesehen:

Reality Bites (1994)

Singles (1992)

Breakfast Club (1985)

Footloose (1984)

Ferris macht blau (1986)

St. Elmo’s Fire (1985)

~ Sommerpause ~

E.T. (1982)

Zurück in die Zukunft (1985)

Ghost (1990)

Die Hochzeit meines besten Freundes (1997)

True Romance (1993)

Habt ihr auch irgendwelche neu gewonnenen Traditionen? Dann her damit! Ich glaube, wir können alle noch ein paar Inspirationen für lange Winterabende gebrauchen.

* Im Grundstudium wussten quasi alle meine Freundinnen, dass sie keinesfalls Samstagnachmittag anrufen durften, da ich dann Beverly Hills 90210 guckte. Und das ging nur dann!

Dinner for Two: Linguine mit Grünkohl, karamellisierten Zwiebeln und Ziegenkäse

Wer die Kombi Pasta mit grünen Bohnen seltsam fand, zuckt jetzt vermutlich erst recht zusammen, aber ich empfehle unbedingt, dem Ungewohnten eine Chance zu geben. Das gilt vor allem auch für jene Menschen, die Grünkohl klassisch zubereitet nicht mögen. Ach ja, und wer nicht die ganze Woche Grünkohl essen möchte, sollte auf den Markt oder zu einem kleinen Gemüsehändler gehen – im Supermarkt gibt es oft nur 1-Kilo-Beutel.

Für zwei Portionen:

Olivenöl

1 rote Zwiebel (in Streifen geschnitten)

200 Gramm Bandnudeln

Circa 150 Gramm Grünkohl (klein geschnitten, aber nicht zu klein; der Grünkohl zerfällt und schrumpft in der Pfanne)

150 Ziegenfrischkäse (zerteilt)

Salz & Pfeffer

Ein Esslöffel Olivenöl in einer Pfanne bei mittlerer Hitze erwärmen und Zwiebeln darin circa 10 Minuten braten, bis die Streifen braun werden. Ein Teelöffel Salz hinzufügen und bei niedriger Hitze weitere 15 Minuten karamellisieren.

Währenddessen Wasser aufsetzen und Nudeln nach Packungsangabe kochen.

Wenn die Nudeln kochen, Grünkohl zu den Zwiebeln hinzufügen, Deckel drauf und circa 8 Minuten garen, immer mal umrühren.

Nudeln abgießen und mit zwei Drittel des Ziegenkäse zum Grünkohl und den Zwiebeln geben. Vermengen, eventuell noch etwas Olivenöl dazu, vor allem aber frisch gemahlenen Pfeffer.

Auffüllen und mit dem restlichen Ziegenkäse bestreut servieren.*

* Und sich kurz wie in New York fühlen, dort ist das Superfood Kale ja schon seit Jahren der heiße Scheiß.

Drei Tage Thessaloniki

Ganz ohne mein geliebtes Hellas konnte ich dieses Jahr doch nicht und bin Ende September für acht Tage hingeflogen. Griechenland hat die Pandemie bisher zum Glück sehr gut gemeistert und hatte stets relativ geringe Fallzahlen, so dass ich mir diesbezüglich wenig Sorgen machte. Für den Flug besorgte ich mir FFP3-Masken, und vor Ort ließ sich gut Abstand halten – vor allem aber noch ein bisschen Sommer genießen.

Aufgrund der relativ kurzen Zeit kam ein Inselurlaub so, wie ich ihn liebe – und das heißt kleine, abgelegene Inseln –, diesmal nicht in Frage. Stattdessen habe ich einen Städtetrip mit ein bisschen Strandurlaub verbunden.

Thessaloniki ist eine Hafenstadt im Norden Griechenlands. 1917 wurde ein großer Teil ihres Zentrums durch einen Brand zerstört. Wie Athen ist sie keine Schönheit auf den ersten Blick, aber ich mochte es sehr: die lange Uferpromenade, die Gebäude mit den großen Balkonen und einem Touch Bauhaus, dazwischen Ruinen aus römischer oder byzantinischer Zeit, die vielen coolen Restaurants und Bars.

Ich war für drei Nächte da, zwei hätten sicher auch gelangt, denn viele Sehenswürdigkeiten gibt es nicht. Meine Tage verbrachte ich mit Bummeln, Leute gucken, im Café sitzen, über den Markt schlendern, essen. Das alles kann ich im Urlaub ganz wunderbar alleine. Ich liebe es, auf eigene Faust eine Stadt zu entdecken, Menschen zu beobachten, Gespräche zu belauschen, Vokabeln aufzuschnappen, meinen Gedanken nachzuhängen.

Nur beim Essen hätte ich mir echt Verstärkung gewünscht – denn das geht in Thessaloniki ganz fantastisch. Und das Beste an der griechischen Küche sind ja die Vorspeisen, und das Schönste wiederum, von diesen möglichst viele zu probieren und zu teilen. Ich habe einfach jedes Mal wieder zu viel bestellt, was ein Jammer ist. Und dann gibt es IMMER noch Nachtisch aufs Haus. Irgendwann musste ich kapitulieren und diesen höflich ablehnen. Stattdessen bekam ich Schnaps. Schlimm diese Gastfreundschaft.

Übernachtet habe ich im Trilogy House mitten im Zentrum, das aus zehn tollen, individuell designten Zimmern und zwei Apartments besteht. Es liegt zwei Minuten von der Uferpromenade entfernt, und gleich um die Ecke gibt es jede Menge Restaurants und Bars.

Südlich von Thessaloniki befindet sich die Chalkidiki, drei fingerartige Landzungen, wo sich wunderbar noch ein paar Tage Strandurlaub an den Städtetrip dranhängen lassen. Die Eindrücke teile ich demnächst.

Wie geht es dir in Zeiten von Corona? – Christian, Kapstadt

Mit Christian habe ich vor langer Zeit mal ein Buch gemacht, für das er als Co-Autor ganz wunderbar das verrückte Leben von Lutz Pfannenstiel eingefangen hat. Ich freue mich sehr, dass wir über all die Jahre locker in Kontakt geblieben sind.

Magst du dich kurz vorstellen?

Gerne. Ich heiße Christian Putsch, bin 41 Jahre alt und seit gut einem Jahrzehnt Korrespondent für die WELT-Gruppe in Südafrika – gehe also langsam aber sicher als Veteran durch. Anfangs war ich in Johannesburg, inzwischen lebe ich in Kapstadt. Das ist vielleicht der Ort mit den größten Kontrasten überhaupt. Fast angeberische Schönheit, hohe Porsche-Dichte und Touristenziel auf der einen Seite – direkt daneben dann existenzielle Armut, verbunden mit den entsprechenden Problemen. An diese Gegensätze werde ich mich nie gewöhnen. Sie sind aus journalistischer Sicht aber extrem spannend. Ansonsten laufe ich gerne die Berge hoch, fahre Moped oder lasse mir von meinem zweijährigen Sohn die Welt erklären. Und schwimmen tue ich wie Julia auch manchmal. Wobei das Atlantikwasser skandalös kalt ist.

Wie ist derzeit die Lage in Kapstadt?

Wir hatten einige Monate lang den strengsten Lockdown der Welt. Das Haus durften wir nur für die nötigsten Einkäufe verlassen. Natürlich nur mit Maske. Als Journalist durfte ich mich immerhin für die Arbeit frei bewegen. Nachdem ich eine Million Papiere ausgefüllt hatte.

Ach ja, man konnte keinen Alkohol kaufen, auch keine Zigaretten. Das hat eine Nachbarin hier fast in den Wahnsinn getrieben. Die hat mich ein paar Mal angeschnorrt. Beim ersten Mal habe ich noch eine Flasche Wein über den Zaun gereicht. Als sie dann aber die im Gegenzug versprochene Schokolade nicht rausrückte, habe ich beim nächsten Mal behauptet, uns seien die Vorräte ausgegangen. Manchmal darf man lügen, finde ich.

Zwischenzeitlich war Südafrika das Land mit den fünftmeisten registrierten Infektionen weltweit, jetzt sind wir an Position neun. Die Infektionszahlen sind zuletzt deutlich gesunken, auch die der Toten war zum Glück deutlich geringer als in vielen anderen Ländern. Da hilft sicher das junge Durchschnittsalter der Bevölkerung. Die Risikofaktoren HIV und Tuberkulose haben sich bislang als nicht so bedeutend erwiesen wie befürchtet – zumindest bei den Patienten, die ihre Medikamente nehmen.

Inzwischen sind die meisten Auflagen gelockert worden. Masken aber tragen wir weiter, sobald wir das Haus verlassen. Wer sich weigert, macht sich strafbar. Die Wirtschaft geht natürlich am Krückstock, die rigorosen Restriktionen richten in einem Land wie Südafrika weit existenzielleren Schaden als in Industrienationen an. Die Regierung hat schulbuchmäßig und bisweilen stur die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation bis ins Detail umgesetzt. In Teilen war das sinnvoll, aber dabei ist auch deutlich geworden, dass nicht jede Maßnahme in Ländern mit schwachen Sozialsystemen funktioniert. 

Was hat sich für dich persönlich durch Corona verändert?

Ich krame den Koffer seltener aus dem Schrank hervor. Die Grenzen in Südafrika sind noch zu, außer drei Inlandsreisen war ich während des vergangenen Halbjahres durchgehend zuhause. Das ist schon eine Umstellung, sonst bin ich bis zu 100 Tage im Jahr unterwegs.

Und der Lockdown war heftig, privat drohte da ein wenig der Lagerkoller. Da wirkte es wie ein Feiertag, als wir im Juni immerhin wieder zwischen sechs und neun Uhr morgens spazieren gehen durften. Ich hätte nicht gedacht, dass aus mir noch einmal ein Frühaufsteher wird – ist aber passiert. Eins von vielen Dingen, die ich in diesem Jahr nicht erwartet hätte.

Es ist auch ein blödes Gefühl, 9000 Kilometer von der Familie entfernt zu leben und im Notfall nicht rüberfliegen zu können. Das Problem besteht weiterhin, immerhin sollen in den kommenden Wochen die Grenzen zu einigen Ländern wieder aufgehen. Dann gibt es hoffentlich auch wieder Flugverbindungen nach Europa. 

Aber wir haben das Beste draus gemacht, über Skype haben wir oft zusammen Sport gemacht. Meine Eltern in Wuppertal, die Familie meines Bruders in der Schweiz, dazu wir hier in Kapstadt. Das war ziemlich lustig und hat sich manchmal ein bisschen nach Familientreffen angefühlt. Aber halt nicht genug.

Mein Job ist gerade auf vielen Ebenen ganz anders als sonst. Weil Reisen in andere afrikanische Länder gerade nicht möglich sind, binde ich verstärkt lokale Journalisten vor Ort mit ein. Die liefern dann zu, das klappt wirklich gut. Aber um ehrlich zu sein, kann ich es kaum erwarten, wieder mehr zu reisen. Das Wort „Zoom“ löst bei mir Hautausschlag aus …

In Kamerun 2019 mit Modedesignerinnen in Douala. Foto (auch oben): Karin Schermbrucker

Was bereitet dir am meisten Sorgen?

Klar mache ich mir um das Land Sorgen, die enorme Neuverschuldung, die unzähligen Arbeitsplätze, die hier gerade verlorengehen, die Angst vor einer zweiten Welle. Am emotionalsten sind die Einschläge im eigenen Umfeld. Ein Bekannter aus meinem Squash-Verein ist an Covid-19 gestorben, dazu der Vater eines engen Freundes meiner Frau. Natürlich sorge ich mich, dass es irgendwann den engeren Kreis treffen könnte. Das steht über allem.

Aber wir müssen auch alle irgendwie die Rechnungen zahlen. Und die Reserven sind hier in Südafrika kleiner als in Deutschland. Es gibt in meinem Umfeld gerade so viele Existenzen, die gefährdet sind, und darüber denke ich ehrlich gesagt öfter nach als über die Gesundheit. Einige Freunde hatten hier kleine Unternehmen aufgebaut, sie mussten zurück nach Europa ziehen. Andere halten sich irgendwie über Wasser, aber auch sie haben zu knapsen. Mir geht es vergleichsweise gut, icg spare aber auch mehr als sonst.

Hast du etwas Positives aus den letzten Monaten mitgenommen?

Es gab eine überraschend große Solidarität in meinem Stadtteil, wo sich direkt neben Einfamilienhäusern zwei Townships befinden. Da entstanden viele Initiativen, unzählige ehrenamtlich verbrachte Tage, Spenden – all das war nicht selbstverständlich. Ich werde auch nie vergessen, wie euphorisch sich wildfremde Leute nach Monaten der weitgehenden Isolation bei den ersten Morgenspaziergängen auf den Straßen begrüßt haben. Man konnte das Lächeln förmlich spüren, trotz der allgegenwärtigen Gesichtsmasken. Das kann kein Zoom-Meeting, kein WhatsApp-Videocall oder sinnlos verbrachte Stunden auf den sozialen Netzwerken ersetzen. Wir sind halt doch viel mehr richtige Herdentiere, als wir denken. Es war schön, das zu realisieren. Ach ja, ich habe in diesem Jahr so viel Zeit in der Natur verbracht wie nie zuvor, ob im Meer, auf den Bergen oder in den Wäldern. Das hat mir gutgetan. Ich hoffe, das bleibt. Da bin ich optimistischer als beim frühen Aufstehen …

Aber am Ende sind das Randnotizen. Ich mag die philosophischen Reden von der Rückbesinnung auf das Wesentliche nicht, die man von vielen in den vergangenen Monaten gehört oder gelesen hat. Solche Aussagen stammen von Leuten, die im Wesentlichen abgesichert sind. Die Situation ist schon ein großer Mist. Ich hoffe, dass wir uns hoffentlich bald wieder sorgenfreier über andere Dinge unterhalten können.

Übers Schwimmen oder so.

Danke, Christian! Oh ja, das wünsche ich uns auch. Bleib gesund!