Am 29. Juni 2015 saß ich auf einer Bank am Beckenrand des McCarren Pools in Brooklyn Williamsburg, blickte auf ein halb leeres Becken und weinte. Seit einem Monat war ich in New York und nicht einmal im Wasser gewesen. Ich wusste, dass ich auf der Straße keinen Alkohol und im Park keine Zigarette rauchen durfte. Ich hatte mich damit abgefunden, dass es im Supermarkt hundert Sorten Greek Joghurt gab, aber keiner davon vollfett war. Ich hatte vier Wochen im Flatiron Building gearbeitet, auch wenn ich offiziell nur zugucken durfte. Dies war mein erster Urlaubstag, ich hatte mich wie bekloppt darauf gefreut, endlich wieder ein paar Bahnen zu schwimmen. Und so gut ich die vielen seltsamen Regeln des amerikanischen Lebens inzwischen kannte, diese Logik wollte mir nicht in den Kopf: Der Sportbereich würde erst geöffnet werden, wenn der Kinderbereich zu voll sei, hatte mir einer von circa einem Dutzend Life Guards mitgeteilt, die sich am Beckenrand auf den Füßen standen. Schließlich schluckte ich meinen Tränen runter und schwamm 60 Bahnen entlang der Leine, die den übervollen Kinderbereich vom menschenleeren Sportbereich trennte. Das hatte ich mir anders vorgestellt!

Zu meinem 40. Geburtstag hatte ich mir einen Traum erfüllt: zwei Monate allein in New York City. Vier Wochen würde ich bei Flatiron Books zu Gast sein, um den amerikanischen Kollegen bei der Arbeit zuzuschauen, und anschließend vier Wochen Urlaub machen. Das einzige, was meine Vorfreude ein wenig schmälerte, war die Vorstellung, acht Wochen lang nicht schwimmen zu können. Da es kaum öffentliche Schwimmbäder in New York gibt und ich nicht vorhatte, für die kurze Zeit Mitglied in einem Sportverein oder Fitnessclub zu werden, hatte ich mir noch Zuhause die Finger wund recherchiert, bis ich die beste Entdeckung überhaupt machte: die New Yorker Park Pools.
In den New Yorker Parks gibt es – auf alle fünf Burroughs verteilt – circa 35 Freibäder, die in den Sommermonaten geöffnet und kostenlos sind. Elf von ihnen, darunter der McCarren Pool, wurden in den dreißiger Jahren im Rahmen einer New-Deal-Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erbaut und im Sommer 1936 von Bürgermeister La Guardia eröffnet. Elf Pools, die damals, sowohl was Ingenieurskunst als auch Design betraf, State of the Art waren und fortan tausende Familien und Sportler aus der Nachbarschaft anzogen, die es sich nicht leisten konnten, den heißen New Yorker Sommer in den Hamptons zu verbringen. Mit einer Ausnahme wurden alle zuletzt in den Achtzigern renoviert – das sieht man ihnen leider auch an –, nur der McCarren Pool in der Hipsterhochburg Williamsburg war erst 2012 modernisiert worden und sah immer noch tip top aus. Es war eine Schande.
Drei Tage später fuhr ich mit dem Rad 40 Minuten in den Westen Brooklyns und startete einen neuen Versuch im Red Hook Pool. Zuvor hatte ich mich auf der Seite von NYC Parks schlau gemacht, denn natürlich gibt es klare Regeln: Man hat selbst ein Schloss für den Spind mitzubringen, Essen, Glasflaschen, elektronische Geräte und Zeitungen (!) sind gefälligst zu Hause zu lassen. Ich zog mich in einer Turnhalle um, schloss meine Sachen ein, duschte und betrat nervös den Außenbereich, wobei ich erst zwei Security Ladies passieren musste, prompt meine nagelneue Sonnenbrille fallen ließ – und ein herzliches „Be careful with those Ray Bans, honey!“ erntete. You gotta love New York even though you don’t understand the rules …

Ich atmete erleichtert auf und grinste von Ohr zu Ohr: ein großer Sportbereich fast für mich allein. Glücklich zog ich meine Bahnen und ließ mich dabei auch nicht von dem Police Officer irritieren, der am Beckenrand patrouillierte. Die Sicherheitsmaßnahmen mögen einem übertrieben erscheinen, aber viele der Pools befinden sich in sozial schwachen Gegenden, und bei 30 Grad plus und überfüllten Becken kam es in der Vergangenheit wohl schon das ein oder andere Mal zu Randale. In der folgenden Woche hatte ich Besuch von meinem Freund Lars, der im Gym neben der Männerturnhalle aka Umkleide Zeuge einer kleinen Schlägerei wurde.
Mit Lars fuhr ich auch noch zwei Tage in die Hamptons, verlor in der Brandung des Atlantiks fast mein Bikinioberteil und war schwimmtechnisch eigentlich schon mit New York versöhnt, aber einen Pool wollte ich doch noch ausprobieren. An meinem vorletzten Tag fuhr ich daher eine Stunde mit der Bahn nach Queens zum Astoria Park, am East River zwischen Robert F. Kennedy und Hell Gate Bridge gelegen, und traute fast meinen Augen nicht: Der Astoria Pool ist der größte der elf 1936 erbauten Pools und misst 50 mal 100 Meter. Hier trainierte das US-Schwimmteam für die Olympiade in Berlin. Und sowohl Ausmaß als auch Lage sind einfach spektakulär.


Am „kurzen“ Ende gab es einen abgetrennten Schwimmerbereich, in dem einige ältere Damen, als ich eintraf, noch Wassergymnastik machten. Ich setzte mich auf die Stufen unter die Sonnensegel, sah ihnen zu, dann tauschten wir – ich schwamm, während sie auf den Stufen saßen und tratschten. Da Astoria das Little Greece New Yorks ist, kehrte ich anschließend beseelt in einem kleinen griechischen Restaurant gleich neben dem Park ein. Es war einer dieser perfekten New-York-Momente.
Am 25. Juli 2015 saß ich an einem Tresen in Brooklyn Bedford Stuyvesant, blätterte durch die Fotos auf meinem Handy und verdrückte ein paar Tränen. Ich war vierzig und single, hatte mir einen Traum erfüllt und zwei großartige Monate mit Höhen und Tiefen in dieser verrückten Stadt verbracht, und ich war alles gleichzeitig: beschenkt und dankbar, planlos und traurig, stolz und glücklich.