Mut, Mut – denn beim Schwimmen im Meer wie in der Liebe gilt: Nicht springen ist keine Option

Unser Boot lag in einer einsamen Bucht der griechischen Sporaden, der Himmel war wolkenverhangen. Ich stand an Deck und schaute mit mulmigem Gefühl aufs Meer, das unruhiger war, als ich es bisher beim Schwimmen gewohnt war. Gleich würde ich ins Wasser springen, um drei Kilometer entlang der Küste zu kraulen. Wieder einmal fragte ich mich: Was mache ich hier eigentlich? Wieso kann ich nicht wie andere Urlauber einfach nur faul am Strand liegen und ein Buch lesen? Kann ich nicht. Bzw. kann ich schon, aber vorher brauchte ich dieses kleine Abenteuer. Wie sagte M. immer? Mut, Mut.

Wenn ich jemanden beeindrucken will, dann erzähle ich, dass ich im Urlaub von Insel zu Insel schwimme. Ich bin keine gute Smalltalkerin und erzähle nicht gerne unaufgefordert von mir. So war es auch bei meinem ersten Treffen mit M. Wir sprachen eigentlich nur über ihn, und irgendwann regte sich der Wunsch in mir, ihm zu zeigen, dass ich auch eine ganz coole Socke bin. Also lenkte ich das Gespräch auf Griechenland und erwähnte in einem Nebensatz meine Schwimmurlaube. Es verfehlte seine Wirkung nicht, das tut es nie. „Was machst du?“ Ich erzählte dem Mann, von dem ich in diesem Moment noch nicht wusste, dass ich gerade dabei war, mich in ihn zu verlieben, wie wunderbar und unbeschreiblich schön es sei, so eine lange Strecke im Meer zu schwimmen. Ein paar Tage später beendete er eine Mail an mich mit den Worten: „Ich denke die ganze Zeit an diese Inselschwimmerei. Total toll.“ Check.

Das war der Anfang unserer Geschichte. Zwei Monate später, als ich gerade mal wieder nicht wusste, woran ich mit ihm war, sagte M. mir am Telefon, dass er nun auch seinen Griechenlandurlaub gebucht hätte, aber leider schon Anfang August da sei. Ich lachte. Ich würde erst Ende des Monats fliegen, vor allem aber würde ich in einer ganz anderen Ecke des Landes sein. Da sagte er: „Aber es ist ja ein kleines Land, und ich hätte dir so gerne beim Schwimmen zugeguckt.“ Als ich später auflegte, kullerten mir Tränen über die Wangen. Konnte es wirklich sein, dass M., der sich zwischendurch tagelang nicht meldete, weil er in Arbeit versank, den ich schon wieder über zwei Wochen nicht gesehen hatte, weil seine private Situation alles andere als unkompliziert war, bei dem ich eigentlich seit unserem Kennenlernen damit rechnete, dass er beenden würde, was noch gar nicht richtig angefangen hatte, an uns im Spätsommer dachte? Ich war erleichtert, ich war gerührt, ich war wieder voller Hoffnung.

Ein Jahr später blickte ich auf die kabbelige, griechische See und war mir nicht sicher, ob sich mein Herz jemals wieder erholen würde. M. und ich hatten unsere Nicht-Beziehung schon vor über einem dreiviertel Jahr beendet – dennoch konnte ich nicht aufhören, mich zu fragen, an welcher Stelle wir falsch abgebogen waren. In klaren Momenten wusste ich: An mehr als einer.

Einer der Swimguides riss mich aus meinen Gedanken, es war Zeit für die Yellows. Wir waren wie immer in drei Gruppen eingeteilt, je nach Schwimmtempo, ich war in der mittleren mit den gelben Badekappen. Nervös prüfte ich, ob meine Schwimmbrille auch wirklich so saß, dass kein Salzwasser reinlaufen konnte. Dann sprang ich ins Blau. Als wir fünf vollzählig im Wasser waren, stimmten wir uns noch einmal über die Richtung ab, in die wir schwimmen sollten – zunächst würden wir Kurs auf die kleine, weiße Kapelle nehmen, wenn wir die Insel erreicht hatten, weiter entlang der Küste schwimmen. Ich machte wie immer erst ein paar Brustzüge, dann begann ich zu kraulen und versuchte, meinen Rhythmus zu finden. Ich atmete nach rechts, drei Armzüge, atmete nach links. Doch immer wieder schwappte mir eine Welle ins Gesicht, schluckte ich eine Ladung Salzwasser und verfiel ins Brustschwimmen, um mich besser zu orientieren.

Ich hatte diesmal weniger trainieren können als in den Jahren zuvor, und die lange Strecke gleich am ersten Vormittag verlangte mir einiges ab. Ich kämpfte gegen die Wellen, die mich ohrfeigten, gegen meinen Körper, der langsam war und schmerzte, und gegen meinen Kopf, der mich stresste, weil ich Angst hatte, mit den anderen nicht mithalten zu können, obwohl das nicht der Fall war. Nach 3,2 Kilometern kletterte ich schließlich mit letzter Kraft an Deck und war stolz, es durch diese Waschmaschine geschafft zu haben. Jemand drückte mir einen Becher heißen Tee in die Hand, ich blickte auf die raue See und dachte: Wenn M. mich doch hätte sehen können! Ich weiß, er wäre begeistert gewesen. Ich glaube auch immer noch, dass seine anfängliche Begeisterung für mich echt war. Ich weiß nur nicht, wann genau sie verloren gegangen ist. Dafür ahne ich, warum.

Ein kluger Mann schrieb einmal: „Es gibt ja nichts zwischen Affäre und Beziehung, entweder, man hält das alles auf einem Level und macht nicht viel mehr, als sich zum Vögeln zu treffen, oder man muss sich darauf einlassen, dass es sich entwickelt; enger wird; näher. Dass man sich liebt.“ Er irrte. M. und ich hatten sechs Monate aus Angst weder Beziehung noch Affäre. Ich hatte aus Angst, ihn zu verlieren, nie mehr verlangt, obwohl es mich mehr Kraft kostete, als ich hatte. Er hatte aus Angst, sich auf jemanden einzulassen und dann doch wieder zu merken, dass er noch nicht soweit war, vor jeder Verbindlichkeit zurückgeschreckt. Mit dieser Angst haben wir aus zwei Richtungen die Funken der Verliebtheit zwischen uns erstickt, bis nichts mehr übrig war als Unsicherheit und Überforderung und Quälerei. Bis schließlich eintrat, was ich seit dem ersten Moment befürchtet hatte: Er beendete das, was noch immer nichts war.

Zu diesem Zeitpunkt wusste auch ich, dass es so nicht weiterging, aber gleichzeitig machte mir mein verstörtes Herz ordentlich was vor: Ich dachte, es wäre eine Chance. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass unsere Geschichte noch nicht vorbei war. Er sagte: „Es tut mir leid, dass ich Erwartungen geweckt habe, die ich nicht erfüllen konnte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich noch immer nicht soweit bin.“ Ich verstand: Es ist nur der falsche Zeitpunkt. Was er aber meinte, war: Du bist es einfach nicht für mich.

Während unser Boot in einer ruhigen Bucht ankerte und wir pausierten, um Kraft für die zweite Schwimmrunde am Nachmittag zu schöpfen, dachte ich an unser letztes Treffen. Vor einem Monat hatten wir uns noch einmal gesehen. Es war der Tag, nachdem meine Mutter gestorben war. Nach mehreren Monaten Funkstille hatte ich, ohne zu überlegen, zum Telefon gegriffen, als ich erfuhr, dass sie ins Hospiz kommt. Und dann war er einfach für mich da gewesen. Wir tranken zwei Flaschen Wein, sprachen von unseren Müttern, übers Schreiben, griechische Inseln und unsere Träume. Später standen wir vor meiner Haustür, M. umarmte mich, sagte: Du riechst gut, hielt meine Hand und schaute mir in die Augen. Ich bedankte mich für den Abend und ging. An der Haustür drehte ich mich nochmal um, und da stand er noch immer und schaute mir nach. Oben in meiner Küche goss ich mir einen Schnaps ein und rauchte eine letzte Zigarette. Ich war froh und dankbar, obwohl ich in diesem Moment zweierlei wusste: Ich liebte ihn, so sehr, aber es gab keine Zukunft für uns. Seit einem halben Jahr war er mit einer anderen Frau zusammen.

Auch in den nächsten Tagen wurde das Wetter nicht viel besser. An Tag 4 wollte ich erst gar nicht ins Wasser, schon an Deck fröstelte ich trotz Pulli. Doch sobald ich im Meer war, war alles gut. Der Himmel war zwar bedeckt, aber die See ganz ruhig. Ich versuchte, ein gleichmäßiges Tempo beizubehalten und konzentrierte mich darauf, was ich sah: kleine Fischschwärme und wogendes Gras, einen leuchtend orangen Seestern. Und es funktionierte – nichts tat diesmal weh, ich fand meinen Rhythmus und genoss jede einzelne Minute.

Bevor ich M. traf, war ich mehr als zehn Jahre Single. Ich habe manchmal gedacht, dass ich mich nie wieder verlieben würde. Ich hatte Sorge, dass ich mich womöglich nach so langer Zeit nicht fallen lassen könnte. Als es dann passierte, war es ganz leicht, bis ich in einen Orkan geriet, der mir den Boden unter den Füßen wegriss. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich noch einmal so verlieben werde, wie lange es dauern wird, bis es mich wieder so erwischt. Aber bis dahin werde ich weiter schwimmen, ich werde versuchen, eine gute Tante, Schwester, Tochter, Freundin zu sein, ich werde das Leben feiern, auch wenn es mir vermutlich immer wieder die ein oder andere schwer zu nehmende Welle entgegen spülen wird, aber ich werde den Kopf über Wasser halten. Und wenn es irgendwann wider Erwarten soweit ist, werde ich wieder springen, ich werde einen Zug nach dem anderen tun, und ich werde keine Angst haben.

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